von Michael Krennerich
Wer in einer Wohnanlage mit vier Eingängen, zahlreichen Wohnungen und einem gemeinsamen Innenhof wohnt, der hat naturgemäß auch viele Nachbarn. Sie alle haben ihre – oft liebenswerten – kleinen Eigenheiten. Uns gegenüber, über das Rasenstück des Innenhofs hinweg im Erdgeschoss, wohnt beispielsweise Henning, der Olivenbaum-Mann, mit seiner lieben Frau Viola. Vom Frühjahr bis zum Spätsommer ist er Hauptdarsteller eines täglich wiederkehrenden Schauspiels: Sobald die wärmende Sonne sich von seinem Ost-Balkon verabschiedet, trägt er verlässlich ein halbes Dutzend Olivenbäumchen durch seine Wohnung auf den westlich gelegenen Innenhof. Mit größter Sorgfalt stellt er dort die Terracotta-Töpfe in einer Reihe auf, rückt sie hier und da nochmals zurecht und geht nach einem letzten, prüfenden Blick zurück in seine Wohnung. Bis abends lassen sich dann die grün und silbern schimmernden Blätter von der Sonne verwöhnen. Eine mediterrane Augenweide, die den Blick aus meinem kleinen Arbeitszimmer versüßt. Am Abend wiederholt sich unweigerlich die Szene – nur in umgekehrter Richtung. Gewissenhaft taucht Henning, der Olivenbaum-Mann, im Hof auf, und trägt Topf für Topf wieder ins Haus hinein und durch sein Wohnzimmer hindurch, sodass die Olivenbäume, wohl platziert neben dem blühenden Oleander, morgens wieder seinen Ost-Balkon verschönern.
Zugegeben: Ich genieße das Schauspiel. Nur zu gerne lass ich mich von meiner Arbeit ablenken, lehne mich, eine Tasse abgestandenen Kaffees in der Hand, in meinem Schreibtischstuhl zurück und schaue Henning bei seinem gleichförmigen, besinnlichen und ohne Zweifel sinnvollen Tun zu. Hennig ist, das steht außer Frage, einer der großen Olivenbaum-Flüsterer unserer Zeit. Allein: Wenn ich jemanden sehe, der so eins ist mit seiner Umwelt, regt sich in mir – als nachweislich schlechtem Menschen – der Widerspruchsgeist. Noch während ich Henning zuschaue, male ich mir aus, was wohl geschehen würde, wenn ich nachmittags in den Hof schleichen und ein Olivenbäumchen „ausleihen“ würde. Oder noch besser: Ich könnte es mit einem der mickrigen, blätterarmen Olivenbäumchen vertauschen, die auf unserem Balkon stehen und von Hanna und mir wider aller Ratschläge nicht gerade sparsam gegossen werden. Gewiss würde Henning die Kabale bemerken. Aber, ob er auch ahnen würde, wer hinter dem Ränkespiel steckt? Sicherlich nicht sein netter Nachbar von gegenüber!
Keine Sorge, lieber Leserinnen und Leser. Wird nicht geschehen! Ich bin ja nicht restlos schlecht. Vor allem aber fürchte ich die Konsequenzen. Um Hennings Gesundheit mag es vorderhand gut bestellt sein, aber wer weiß, ob Herz und Seele die verzweifelte Suche nach dem ausgetauschten Olivenbaum unbeschadet überstehen würden. Oder ein anderes Szenario: Aus Henning, dem liebevollen Olivenbaum-Mann, könnte der gnadenlose Olive-Tree Man werden, dessen Rachefeldzug unschuldige Geranientöpfe in unserer Nachbarschaft zum Opfer fallen. Henning ist Anwalt – und die sollte man bekanntlich nicht reizen. Daher lass‘ ich es lieber bleiben. Eine kleine Boshaftigkeit werde ich mir aber nicht verkneifen können. Am Wochenende fahre ich in einen Gartenmarkt, um ein halbes Dutzend Olivenbäumchen zu kaufen, die noch größer und dichter sind als Hennings. Diese stelle ich dann gut sichtbar in den Hof. Auf den erstaunten, vielleicht sogar neidischen Blick des Olivenbaum-Mannes freue ich mich jetzt schon. Und, wenn’s mich zwickt, gebe ich ihm noch ungefragt einige gute Ratschläge zur Pflege seiner Bäumchen.