von Michael Krennerich
Heute erzähle ich Ihnen von einer Zeit, als Barcelona noch nicht überlaufen und Deutsche dort willkommen waren. Zumindest bis Hanna und ich dort auftauchten, um an einer Konferenz zur Demokratie in Lateinamerika teilzunehmen. Damals waren wir noch keine Professorinnen oder Professoren, sondern fleißige Doktorand:innen, die zu Zentralamerika forschten. Wir freundeten uns mit unseren jungen katalanischen Kolleg:innen an und nahmen an Arbeitstreffen mit gestandenen Professor:innen teil. Einer davon trug einen Namen, der im Spanischen ähnlich wie zanahoria klang. Das heißt übersetzt „Karotte“, und da Hanna und ich schon damals schlechte Menschen waren, nannten wir ihn (unter uns) fortan nur noch Professor Karotte. Der gute Mann war herzensgut, aber etwas schusselig und verpeilt. Gleich am zweiten Nachmittag, als Hanna und ich die Stadt zu Fuß erkundeten, trafen wir ihn zufällig in der Stadt. Freudig winkte er uns aus seinem kleinen Auto zu, fuhr an den Straßenrand, rammte ein dort parkendes Auto, stieß zurück, rammt das nächste, stieg aus und hielt mit uns einen kleinen Schnack, völlig unbeeindruckt von seinem Missgeschick. Hanna und ich konnten es nicht glauben und bogen uns, als er später in sein Auto stieg und winkend davonfuhr, vor Lachen.
Doch es kam noch besser. Abends war ein Essen in großer, illustrer Professorenrunde angesagt, zu dem auch Hanna und ich eingeladen waren. Als wir dort still und ehrfürchtig saßen und aßen, bemerkte ich – leider kann ich Ihnen dieses Detail nicht ersparen –, dass Professor Karotte einen gut sichtbaren Popel an seiner Nase hatte. Ich machte Hanna darauf aufmerksam. Wir bemühten uns fortan den armen Menschen nicht anzusehen und verkniffen uns mühsam das Lachen. Doch keine zehn Minuten später hatte auch der Nebenmann von Professor Karotte einen Popel an der Nase. „Komm lass uns abhauen“, raunte ich Hanna zu, „das ist ansteckend“. Dann konnten wir uns nicht mehr halten und brachen vor der verdutzten Professorenschaft in schallendes Gelächter aus. Um der peinlichen Situation zu entfliehen, rannte Hanna zu den Toiletten, stieß aber auf dem Weg dorthin mit dem Kellner zusammen, dessen Riesentablett mit all den schönen Tapas laut scheppernd auf dem Boden fiel. Den Rest des Abends verbrachten wir damit, wie kichernde Pennäler am Tisch der Großen zu sitzen, bemühten uns, unser Lachen zu unterdrücken, was aber nur solange gelang, wie wir uns – und Professor Karotte und seinen Nebenmann – nicht ansahen.
Ehrlich gesagt, dachte ich, dass wir danach nie wieder nach Barcelona eingeladen werden würden. Doch durfte ich – dieses Mal aber ohne Hanna – etwa ein halbes Jahr später dort an einem Workshop teilnehmen, um in meinem gebrochenen Spanisch mein Wissen zu Nicaragua zum Besten zu geben. Die Veranstaltung verlief ohne weitere Zwischenfälle. Abends zogen die jungen Forscher:innen unter uns gemeinsam los, schlenderten über Las Ramblas und kehrten in einer landestypischen Bar ein. Wir waren eine nette Runde aus Katalanen, Basken, einem Deutschen (das war ich) und einer wirklich bildhübschen Italienerin, die Doktorandin bei einem renommierten spanischen Professor war, der zu Lateinamerika forschte. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass alle jungen Männer in der Bar auf Anhieb unsterblich in die – zumal nette – Schönheit verliebt waren. Wie enttäuscht waren meine männlichen Begleiter, als die schöne Italienerin bei der späten Rückkehr in unser kleines Hotel allen gut gemeinten Annäherungsversuchen standhielt und allein in ihrem Zimmer verschwand.
Doch keine fünf Minuten später klopfte es an der meiner Tür. Sie, ja sie, stand davor und fragte mich, ob sie eintreten und mit mir reden dürfen. Der Anlass war allerdings alarmierend: Auf meinem Bett liegend erzählte sie mir unter Tränen, dass sie in ihrem Zimmer eine Nachricht gefunden habe. Ihr Professor erwarte sie nach ihrer Rückkehr, zu welcher Stunde auch immer, in seinem Zimmer, um „noch einige Dinge mit ihr zu besprechen“. Auch ohne Me-too-Debatte war uns beiden damals klar, was dies bedeutete. Warum die schöne Italienerin gerade mir ihr Herz ausschütte, wusste ich zwar nicht. Doch bestärkte ich die Arme darin, allen akademischen Abhängigkeiten zum Trotz, mit dem aufdringlichen Professor zu brechen. Erleichtert und entschlossen verließ sie nach einer knappen Stunde mein Zimmer, gab mir noch einen Kuss auf der Wange und reiste am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrüh ab.
So weit, so gut. Doch als ich morgens in den Frühstücksraum kam, wurde mir schlagartig gewahr, was alle jugendlichen Verehrer der Italienerin nun dachten. Das nächtliche Klopfen an meiner Tür und den Abschied auf dem Flur hatten in dem kleinen, hellhörigen Hotel gewiss alle mitbekommen und gehörig missverstanden. Da mich niemand darauf ansprach, konnte ich auch nichts dementieren. Mit knallrotem Kopf saß ich daher beim Frühstück und wagte kaum aufzublicken. Es erübrigt sich wohl zu erwähnen, dass ich nach diesem Vorfall nie wieder nach Barcelona eingeladen wurde. Mein vermeintliches Stelldichein hat mir dort niemand verziehen. Dies ist, so befürchte ich, auch der Grund, warum Deutsche in Barcelona nicht mehr gern gesehen sind – und ich mich mit meiner Hanna da nicht mehr hin traue. Einen pausbäckigen alemán mit einer schönen, lachenden Frau – das halten die Katalanen nicht aus.