von Michael Krennerich
In den Medien liest man allenthalben über den Fachkräftemangel in Deutschland. Offenbar können viele Arbeitsplätze nicht oder nicht angemessen besetzt werden, weil es an solchen ausgebildeten Fachkräften fehlt. Anhand meiner persönlichen Erfahrungen kann ich dies jedoch nicht bestätigen. In meinem unmittelbaren Lebensumfeld wimmelt es nur so von Profis, wie ich beim letzten Innenstadtbesuch wieder feststellen durfte.
Frohen Mutes (wenn auch etwas außer Puste) radelte ich an diesem Tag zu einem ansässigen Fahrradhändler. Dort gibt es inzwischen ein großes Angebot – vom Trekkingrad über Mountainbikes bis zum schmucken Lastenfahrrad. Ich selbst interessierte mich altersgerecht für ein E-Bike. Nun ist auch hier die Auswahl enorm, und die erheblichen Preisunterschiede sind für den Laien nicht auf Anhieb nachvollziehbar. So fragte ich unbedarft einen Verkäufer, warum dieses Rad 1.000 Euro mehr kosten würde als jenes. „Bei diesem lässt sich die Sattelhöhe verstellen“, antwortete der Verkäufer froh gelaunt. „Kann man dies nicht bei jedem Fahrrad?“, hielt ich verdutzt entgegen. „Doch, doch“, überging der Experte meinen Einwand und überraschte sogleich mit einer weiteren Innovation deutscher Ingenieurskunst. Der Lenker ließe sich auch in der Höhe regulieren. Vorsichtig fragte ich den jungen Mann, ob er tatsächlich hier arbeite. „Ja“, antwortete dieser stolz, „es ist mein erster Tag“. Erfreut über solch‘ vielversprechendem Nachwuchs, bestieg ich mein Fahrrad, winkte zum Abschied und setzte meine Runde durch die Innenstadt fort.
Es folgte, da kann ich nicht „nein“ sagen, der obligatorische Besuch beim Bäcker. Ich möchte keiner anderen Branche zu nahetreten, aber Bäckereifachgehilfen und -gehilfinnen sind unschlagbar. Nicht nur müssen sie lernen, inzwischen völlig überteuerte „süße Stückchen“ an den Mann respektive die Frau zu bringen. Sie sind darüber hinaus auch stets gut gelaunt und vorbildlich ausgebildet in Lebensmittelhygiene. „Ich möchte eine Nuss-Schnecke“, sagte ich höflich. „Welche?“, fragte die nur leicht gelangweilte Verkäuferin. Dann steckte sie ihren Zeigefinger tief in eine Mohnschnecke. „Diese?“ „Nein, die andere mit Nuss, die sie noch nicht angefingert haben“, korrigierte ich sie. „Ach diese“, begriff sie schnell und steckte zur Bestätigung ihrer Auffassungsgabe den Zeigefinger in die danebenliegende Nussschnecke. „Ja, genau“, resignierte ich. Dann drehte ich mich um und ging. Die nächste Bäckerei betrat ich erst gar nicht, wurde man dort doch angehalten, seine Bestellungen in einen Monitor einzutippen. Da fehlt mir der Kontakt zum Fachpersonal.
Inzwischen hungrig, radelte ich weiter, um mich mit einem späten Brunch in einem der Cafés unserer Stadt für anstehende Einkäufe zu stärken und schon im Vornherein zu belohnen. In dem Café arbeiten die Bedienungen äußerst gewissenhaft; jedes Glas stilles Mineralwasser wird getrennt an den Tisch gebracht, so dass nichts verschütt‘ geht. Solcher Service kostet natürlich seine Zeit. So verwunderte es auch nicht, dass es geschlagene zehn Minuten dauerte, bis mein Winken bemerkt und ich bedient wurde. Dem Herrn am Nachbartisch erging es nicht besser. Immerhin: Nach einer (gewiss wohlverdienten) Rauchpause und einem Plausch mit ihrem (gewiss netten) Kollegen drückte uns die Bedienung jeweils eine Getränke- und Speisekarte in die Hand. Seit meinem letzten Besuch waren die Preise doch erheblich nach oben korrigiert worden, stellte ich erstaunt fest. Vermutlich, so überlegte ich, weil die Bedienungen nunmehr gut geschult und angemessen entlohnt wurden. Mehrmaliges Nachfragen, was man nochmal bestellt habe, und respektvolles Duzen gehörten zur Schulung gewiss dazu. Vorsichtshalber zahlte ich meinen Milchkaffee umgehend, als mir die Tasse auf den Tisch gescheppert wurde. Auf‘s Essen verzichtete ich lieber, wollte ich doch an diesem Abend zeitig zuhause sein.
Etwas schlapp machte ich sodann Halt vor einem großen Elektromarkt, der seine Filiale mitten in unserer Stadt platziert hatte und mit allerlei Sonderangeboten warb. Das hätte ich mit leerem Magen nicht tun sollen, auch wenn ich dringend einen „Blauzahn“-Kopfhörer benötigte. Nun gibt es in dem weitläufigen Markt zwar viele Fachkräfte, aber man muss die Mitarbeitenden erst suchen. Dann gilt es die kundigen und die für die Abteilung zuständigen Fachkräfte unter ihnen zu identifizieren und diesen schließlich hinterherzulaufen, weil ihr Wissen allseits gefragt ist und sie stets in Eile sind. Dafür fehlte mir aber an diesem Tage schlicht die Kraft. So stolperte ich etwas verloren in den Gängen umher, schaute mir hier eine Kaffeemaschine, dort einen Staubsauger an – und kaufte aus reiner Verzweiflung eine elektrische Zahnbürste. Kann man immer gebrauchen.
Als ich auf dem Rückweg noch bei einem großen Kleidergeschäft vorbeifuhr, entschied ich mich, obwohl mein Magen inzwischen bedrohlich knurrte, kurzerhand noch rasch meine Garderobe auffrischen. Ich bin da wirklich schnell, wie selbst Hanna, die meinem ansonsten bedächtigen Einkaufsverhalten nichts abgewinnen kann, bestätigt. Gefällt mir beispielsweise ein Pullover, kaufe ich gleich drei oder vier derselben Sorte in unterschiedlichen Farben. So auch dieses Mal. Hinzu kam ein flauschiges Flanellhemd für gemütliche Abende zuhause. „Ein wirklich schönes Hemd“, bestätigte der emsige Verkäufer an der Kasse. Dann packte er das gute Stück zu den gekauften Pullovern. „Das passt noch rein“, beruhigte er mich, als er meinen skeptischen Blick sah. „So benötigen Sie nur eine Papiertüte. Besser für die Umwelt“. Offenbar hatte er die Verkaufsstrategie des Kaufhauses, mit Papiertüten einen Reibach zu machen, noch nicht verinnerlicht. Umso besser. Freudig verließ ich den Laden und legte die übervolle Tüte in meinen Gepäckkorb. Dann machte ich mich auf dem Heimweg.
Zuhause angekommen, musste ich jedoch feststellten, dass das Flanellhemd auf der Fahrt offenbar verloren gegangen war. Wie ein Rohrspatz fluchend, fuhr ich den zuvor eingeschlagenen Nachhausweg ab, hoffend, dass eine ehrliche Seele das Hemd gefunden und sichtbar auf einen Zaun, eine Hecke oder wo auch immer abgelegt hatte, so dass der rechtmäßige Besitzer sein Eigentum wiederfände. Doch nichts, nada, nothing. Dann kam mir auf dem Rad ein auffällig gutgelaunter Jugendlicher entgegen, der ein – ja, darf es denn sein? – Flanellhemd trug, das meinem doch verdächtig glich. Ich glaubte sogar das noch nicht entfernte Preisschild zu erkennen. Sofort wendete ich und strampelte dem enteilenden Verdächtigen hinterher. „Halt“, rief ich schwer atmend. „Bleib stehen!“, und trat, obwohl ausgezehrt, wie ein Irrer in die Pedale. Doch keine Chance, der Knabe hatte ein hochmodernes, lenker- und sattelverstellbares Bike und offenbar an diesem Morgen gut gefrühstückt. Schließlich gab ich auf. Vielleicht hätte ich mir doch, so dämmerte es mir, eher ein elektrisch betriebenes Fahrrad anstatt einer elektrisch betriebenen Zahnbürste kaufen sollen.