von Michael Krennerich
Heute möchte ich mit Ihnen über Hybris sprechen. Unter den alten Griechen war die Nymphe Hybris das Sinnbild für Hochmut und Anmaßung – Eigenschaften, die seinerzeit freilich nicht nur Beifall hervorriefen. So scheiterten die Protagonisten griechischer Tragödien regelmäßig an der eigenen Selbstüberschätzung – und wurden, wenn’s schlecht lief, ob ihrer Überheblichkeit (gegenüber den Göttern) überdies von Nemesis, der Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit, noch hart bestraft. Heutzutage sind jedoch Selbstüberschätzung und Überheblichkeit geradezu Bestandteil der Selbstinszenierung in Beruf und im Alltag. Sie gehören zur psychischen Grundausstattung von Machtmenschen in Politik und Wirtschaft und haben weit in die Gesellschaft ausgegriffen. Da will ich natürlich nicht fehlen. Allein, in meinem Falle ist es gar nicht so leicht, sich als Gewinnertyp zu gerieren. Mir fehlt das angeborene Selbstverständnis, etwas Besseres zu sein, und ich weiß bis heute nicht so recht, worauf ich mir etwas einbilden soll. Aber Übung macht den Meister. Zum Glück gibt es an den Universitäten genügend Vorbilder, an denen man sich orientieren kann. Da wimmelt es nur so von Posern mit hochglänzenden Lebensläufen, die Auskunft darüber geben, wo sie überall studiert und geforscht, referiert und publiziert haben. Inhaltlich ist dies oft dünne Buchstabensuppe, aber: who cares?
Zugegeben: Nach all‘ den Jahren tue ich mir immer noch etwas schwer mitzuhalten. Das fängt bei dem fehlenden middle initial an, den sich alle männlichen deutschen Wissenschaftler, die etwas auf sich halten, zugelegt haben, um sich ein angloamerikanisches Image zu verleihen. Leider habe ich keinen zweiten Vornamen, den ich abkürzen könnte. Meine Eltern konnten sich gerade so auf einen Namen einigen, und auch nur, weil meine Tante eine Hollywood-Romanze im Kino gesehen hatte, wo ein schöner „Mike“ auftauchte. Ob meines Aussehens oder der englischen Sprache wegen – der Standesbeamte in meinem Geburtsort ließ einen „Mike“ nicht zu und so wurde „Michael“ daraus. An einen zweiten Vornamen war erst gar nicht zu denken. Nun könnte ich mir aus einem der Spitznamen, die ich als Kind verliehen bekam, einen middle initial basteln. Etwa „S.“ wie „Sauerkirsche“ oder „Sputnik“, wie mich zwei Onkel nannten. Der Eine, weil er einen derben Streich mit mir spielte und mir eine wirklich saure Sauerkirsche zum Essen gab, die ich weder zu schlucken noch auszuspucken wagte. Der Andere, dem Zeitgeschehen geschuldet, weil damals die Sowjets im All herumflogen. Mal sehen. Vielleicht ziehe ich auch nur einen Scrabble-Buchstaben.
Ohnehin wird es selbst mit dem middle initial allein nicht getan sein. Ich müsste mich – Klimakrise hin oder her – auch ständig bei internationalen Konferenzen in fernen Ländern herumtreiben und mich dort mit Größen aus Wissenschaft und Politik ablichten lassen. Noch immer habe ich jedoch Skrupel, und das nicht nur, weil ich wenig fotogen bin. Irgendwie habe ich den Verdacht, Selfies mit eigentlich fremden Menschen zu machen, nur, weil diese bekannt sind, lässt nicht die eigene Bedeutung, sondern vielmehr die eigene Mittelmäßigkeit im hellen Licht erstrahlen. Und Mittelmaß sollte man tunlichst nicht weithin in die Welt posten. Zudem ist mein Namensgedächtnis zu schwach, um, zurück im eigenen Land, das angesagte name-dropping ausgiebig zu praktizieren. Es fällt schwer, sich im Glanze anderer Menschen zu sonnen, wenn einem partout der Namen des Knaben nicht mehr einfällt, den alle für so wichtig halten. So bewundere ich all‘ jene, denen es gelingt, nonchalant in lockerer Gesprächsrunde Intimität mit Berühmtheiten vorzutäuschen – nach dem Motto: „Kürzlich hat mir John R. an der Uni Harvard erzählt, dass …“, und zwar ungeachtet dessen, dass besagter John R. schon lange nicht mehr weiß, wer Gerald G. Gernegroß ist, mit dem er am Buffet aus Höflichkeit kurz geredet hat. Die größte Leistung aber ist zweifelsohne die repetitive Selbsttäuschung: sich in der Öffentlichkeit immer wieder als diejenige bedeutsame Persönlichkeit zu porträtieren, die man sein möchte, bis man tatsächlich glaubt, diese auch zu sein.
All dies gibt mir dann doch zu denken. Vielleicht sollte Michael S.(auerkirsche), wenn er schon den Göttern gefallen will, nicht dem übermütigen Ikarus nacheifern, sondern eher der Göttin der Sittsamkeit, Demut und Bescheidenheit, Aidos, schmeicheln. Das ist sicher einen Gedanken wert. Denn: „Most of the trouble in the world is caused by people wanting to be important“, hat der Lyriker und Dramatiker T.S. Eliot lange nach den Griechen geschrieben, und Thomas Stearns musste es wissen, denn er hatte gleich zwei initials.