von Michael Krennerich
Jüngst war ich das erste Mal in einer orthopädischen Reha-Klinik. Man trifft dort viele Menschen, bei denen die müden Knochen und Bänder nicht mehr so recht wollen oder denen ein Missgeschick widerfahren ist: Der eine ist beim Säubern der Dachrinne von der Leiter gefallen, der andere vom Kirschbaum neben der Scheune. Am schlimmsten erwischt es zumeist verunglückte Motoradfahrer. Daneben die üblichen Erscheinungen einer alternden Gesellschaft: Knie, Hüfte, Wirbelsäule. Ich war also in guter Gesellschaft.
Es war meine letzte Woche in der Reha und ich konnte schon ohne Gehstützen laufen. Längst war mir nicht nur der weitläufige Gebäudekomplex mit seinen unzähligen Therapieräumen bestens vertraut. Ich kannte auch etliche Rekonvaleszenten, die über die Flure humpelten oder vor den Fahrstühlen warteten. Das geduldige Ausharren vor und in den Liften war – neben dem Essen und den Krankengeschichten – das vordringliche Gesprächsthema. Stolz nahm ich inzwischen die Treppe.
Im Erdgeschoss angekommen, ging ich gemächlich in Richtung Speisesaal, der bereits von ungeduldigen Menschen bevölkert wurde. Ich hingegen hatte Zeit und nahm mir diese auch. So bestaunte ich die Auslagen des Klinikshops, der nicht ohne unfreiwillige Ironie mit Qualitätsuhren für 12,95 Euro warb. Dann lugte ich in das Lese- und Spielezimmer. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich den Raum während meines dreiwöchigen Aufenthalts bis dahin noch nie betreten und erkundet hatte. Dies galt es nachzuholen.
Das Lese- und Spielezimmer, obgleich für die Gemeinschaft gedacht, war menschenleer, abgesehen von einem gealterten Ozzy Osborne-Typ, der in einem Lesesessel döste. Gleichmäßig hob sich sein ansehnlicher Bauch unter einem schwarzem „Killer“-T-Shirt, aus dem zwei dünne, tätowierte Arme und ebenso viele Beine in Arthrosestrümpfen hingen. Neugierig schaute ich mich um. Gleich neben dem Eingang stand ein Zeitungsständer mit einer erstaunlich breiten Auswahl an Tageszeitungen. Auch das Bücherregal war gut bestückt. Auf der Anrichte daneben lagen – wohl der aktuellen Wohnungslage geschuldet – gleich zwei Monopolys. In der gegenüberliegenden Ecke wiederum befand sich ein Stehtisch mit einem großen Schachbrett.
Den Mittelpunkt aber bildeten zwei große Tische, an dem die Patienten gemeinsam zwei gigantische Puzzles fertigstellen konnten, wenn sie viel Geduld hatten und ansonsten nichts mit ihrem Leben anzufangen wussten. Zu meinem Unverständnis hatte mein Bruder Stefan, obwohl er eigentlich ein ungeduldiger Typ war, als Kind gerne riesige Puzzles zusammengesetzt. Die Puzzles hier aber waren nochmals eine Nummer größer, echte Mega-Puzzle. Die Vorlagen auf dem Spieledeckel zeigten dabei ähnliche Motive: bayerische Berg-Idyllen mit viel Grün und noch mehr blauem Himmel, leicht durchzogen mit Schönwetterwolken. Eine echte Herausforderung.
Ich erinnerte mich vage, dass man immer mit dem Himmelrand anfängt, und stellte zu meinem Erstaunen fest, dass sich hier doch einige Lücken auftaten. So begann ich nach den fehlenden Puzzleteilen zu suchen, erst beiläufig, dann immer eindringlicher, aber letztlich ohne Erfolg. Nach 20 Minuten war ich ziemlich ratlos. Really puzzled. Dann fiel mein Blick, dem Himmel sei Dank, auf den anderen Tisch. Natürlich, das war die Erklärung. Jemand hatte wohl versehentlich die Puzzles vermischt, denn dort lagen doch offensichtlich die Wolken-Teile, die meinem Puzzle fehlten. Geschwind nutzte ich diese, um sie am richtigen Ort zu platzieren. Klemmten zwar ein wenig, aber mit ein wenig Geschick ließen sie sich einfügen.
Verspätet, aber durchaus zufrieden verließ ich den Raum und begab ich mich anschließend in den Speisesaal. Die meisten Patienten waren schon beim Aufbruch, gesättigt von einem deftigen Schweinebraten, dem der Ernährungsvortrag des Vormittags nichts anhaben gekonnt hatte. Ich selbst hielt Maß und verlies nach einem anregenden Gespräch über die Gebrechen meiner wehleidigen Tischnachbarin den Speisesaal. Als ich auf dem Rückweg zum Lese- und Spielezimmer gelangte, kam dort sichtlich aufgewühlt und erbost Ozzy heraus und zog fluchend von dannen, wobei seine Gehstützen böse auf dem Boden klackerten.
Vorsichtig schaute ich in den Raum hinein und fragte, was geschehen sei. „Haben Sie den langhaarigen Gammler gesehen?“, erklärte mir ein betagter, nicht minder erregter Patient. „Der hat unsere Puzzles durcheinandergebracht. Alles vermischt hat er, der Hippie“. Unterstützung fand er bei den weiteren anwesenden Senioren, die sich ebenfalls lauthals über das unverschämte Verhalten des Beschuldigten beklagten. Hätten Hüfte und Knie mitgemacht, wäre Ozzy wohl einer Lynchjustiz nicht schadlos entkommen. „Ja, für Puzzles braucht es Geduld“, sagte ich wissend, „die hat nicht jeder“. Dann ging ich meiner Wege.
So weit, so gut. Doch am nächsten Tag wendete sich das Blatt. Vor den Fahrstühlen standen etliche aufgebrachte Alte mit Ozzy zusammen, der wieder (oder immer noch) sein „Killer“-T-Shirt trug. Sie alle redeten und gestikulierten heftig. Als ich vorbeilief, warfen sie mir böse Blicke zu. Ozzy hatte am Vortag wohl nur zeitweise gedöst und war nun dabei, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben. Ich war heilfroh, dass ich schon die Treppe nehmen konnte.
In den folgenden Tagen verließ ich kaum mehr mein Zimmer. In den Speisesaal traute ich mich erst am Ende der Essenszeiten und nahm so in Kauf, dass das Buffet schon geräubert war. Doch am Tag meiner Abreise nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, schlich mich in das Lese- und Spielezimmer und stopfte mir gleich zwei Dutzend Puzzle-Teile in die Hosentasche. Der Aufruhr soll beachtlich gewesen sein, erfuhr ich später aus der Lokalzeitung. Die Alten hatten, da sie meiner nicht habhaft werden konnten, wohl doch Ozzy verprügelt. Zufrieden strich ich mir über mein „Revenge“-T-Shirt und legte eine Black Sabbath-Platte auf.