Das Sockenmonster

von Michael Krennerich

Sie alle kennen womöglich die Zottelkralle von Cornelia Funke. Uns ist das Buch bestens vertraut. In der fünften Klasse gewann Paul damit einen Schul-Lesewettbewerb. Lange glaubte ich, dass es solche sechshändigen Erdmonster und ähnliche Zeitgenossen nicht gäbe. Doch wurde ich vor Kurzem eines Besseren belehrt, als ich aus dem Büro nach Hause kam, um das Ladekabel für mein Mobiltelefon zu holen, das ich im Schlafzimmer vergessen hatte.    

Mitten auf dem Bett lag ein kleines Wesen mit struppigem Fell. „Was machst Du denn schon hier?“, fragte es mich, offenbar überrascht, aber nicht beeindruckt.

„Ich habe etwas vergessen“, antwortete ich und ärgerte mich umgehend, dass ich dem Kerlchen Rede und Antwort stand, bevor ich es fragte, wer es denn sei und was es hier zu suchen habe.

„Ich bin Fred“.

Ich schaute offenbar nicht allzu schlau.

„Ein Sockenmonster“, ergänzte Fred etwas genervt.

„Hab‘ ich ja noch nie gesehen“, entgegnete ich knapp.

„Wir sind flink und schlau“, grinste Fred breit. „Man entdeckt uns nicht.“

„Kann man von Dir nicht gerade behaupten.“

„Na ja, ich mache gerade mein Verdauungsschläfchen.“ Dann zog er eine angefressene blaue Socke unter dem Kissen hervor und strich sich zufrieden über den kleinen Bauch.

Das erklärt vieles, dachte ich mir. Ständig suchte ich vergeblich nach passenden Paaren. Ich hatte schon unseren Sohn Paul im Verdacht. „Und wie kriege ich Dich jetzt wieder los?“, wollte ich wissen.

„Gar nicht“, klärte Fred mich auf. „Solange man Socken hat, gibt’s auch Sockenmonster im Haus.“ „Das ist halt so“, ergänzte er, als er meinen erschrockenen Blick sah, achselzuckend.

Ich setzte mich auf die Bettkante und dachte angestrengt nach, was nun zu tun sei, während mich der Kleine schläfrig musterte. Freds Rülpsen weckten mich aus meinen Gedanken. „Lass‘ das“, sagte ich, „das ist eklig.“

„Versprochen“, versprach Fred, fügte aber gleich hinzu, dass es Sockenmonster mit Versprechen nicht allzu ernst nähmen. Wie zur Bestätigung rülpste er noch einmal leicht. „Tschuldigung.“  

„Könntest Du die Socken nicht wenigstens paarweise essen? Also immer zwei blaue, zwei schwarze oder so?“, fragte ich ihn. „Das würde mir viel Zeit beim Suchen sparen.“

„Na ja, schmecken eben anders“, entgegnete Fred und räkelte sich im Bett. „Aber ich kann’s versuchen. Versprechen kann ich’s nicht.“

„Würde eh nichts nützen“, erwiderte ich leicht resigniert.

„Vermutlich“, meinte Fred und schaute mich treuherzig an.

Dann kam mir eine Idee. „Isst Du eigentlich auch Strumpfhosen?“, fragte ich.

„Ich bin ein Sockenmonster“, entgegnete Fred etwas beleidigt.

„Schon klar. Aber man muss mit der Zeit gehen und offen sein für die moderne Küche“, ermunterte ich ihn, „zumal die Socken zunehmend durch Füßlinge ersetzt werden.“ Dann pries ich ausgiebig die Vorteile von Strumpfhosen, ihre Länge, ihre Beschaffenheit, vom Nährwert ganz zu schweigen. Gespannt hörte Fred meinem halbstündigen Vortrag zu. Als Dozent kann ich recht überzeugend sein. Am Ende gab ich dem kleinen Monster noch zwei nagelneue Strumpfhosen, die ich aus Hannas Schublade gekramt hatte. „Zum Probieren!“ „Nun muss ich aber los. Die Arbeit ruft“, verabschiedete ich mich, doch der Kleine hörte mir schon nicht mehr zu, sondern zog und zerrte bereits neugierig an den Strumpfhosen. Als ich die Wohnung verließ, hörte ich ihn laut und genüsslich schmatzen.

„Hast Du meine neuen Strumpfhosen gesehen?“, fragte mit Hanna Tage später, während sie in ihrer Schublade wühlte.  

„Die hat vermutlich Fred, unser Sockenmonster, gefressen“, antwortete ich kurz, bündig und wahrheitsgemäß.  

Ungläubig blickte Hanna auf. „Sockenmonster fressen keine Strumpfhosen, sonst wären es ja Strumpfhosenmonster, oder?“

„Wenn Du meinst“, sagte ich nur. Hanna ist manchmal wirklich naiv.   

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