Kindheitsträume

von Michael Krennerich

Geht es Ihnen auch so? Als Kind wünschten Sie sich sehnlichst Dinge, die sie sich heute locker leisten könnten und doch nie kaufen. So stehen Sie vor irgendwelchen Läden und denken: „Ja, Mensch, so etwas hätte ich früher auch gerne gehabt“, aber sie gehen nicht hinein, um sich den Wunsch nachträglich zu erfüllen. Zugegeben: Bei näherem Hinsehen hat so manches, was seinerzeit das kindliche Seelenglück ausmachte, seine Anziehungskraft verloren. Eine blaue Gummi-Taucherbrille beispielsweise steht nicht jedem Erwachsenen, zumal, wenn sie gemeinsam mit einer Tarzan-Leoparden-Badehose am heimischen Baggersee getragen wird. Da braucht es schon eine gehörige Portion gesunden Selbstvertrauens.

Auch ein quietschrotes Gummiboot muss man nicht nur aufzublasen, sondern auch zu manövrieren wissen. Matze und Lotti, ein befreundetes Ehepaar, verwirklichten sich nach einem nicht enden wollenden Herumtreten auf einem Blasebalg diesen Kindheitstraum und stachen mit einem Schlauchboot kühn in See, in diesem Fall auf die Außenalster in Hamburg, wo sie prompt in eine Segelregatta gerieten. Die beiden hatten sichtlich Mühe, den Anweisungen der Wasserpolizei Folge zu leisten. So richtig wendig und flott sind Schlauchboote eben nicht, schon gar nicht, wenn man sich bei der ganzen Aufregung und dem ebenfalls nicht enden wollenden Gekicher von Lotti ständig im Kreis dreht.

Auch in das heutige Wohnambiente fügt sich nicht jeder Kinder-Wunsch von damals stilsicher ein. Das Himmelbett, das Hanna sich als Kind wünschte, entspricht nicht ganz meinem Geschmack. Mit einem Billardtisch im Wohnzimmer kann sich Hanna wiederum nicht anfreunden. Immerhin: Als junger Vater kaufte ich ein halbes Dutzend Stoffbälle, so dass Paul und ich nicht nur im Freien, sondern allabendlich noch in der Wohnung kicken konnten, was meine Mutter strengstens verboten hätte, mir aber mindestens genauso viel Spaß bereitete wie Paul, der eine ausgefeilte Schusstechnik entwickelte. Dass so manche Vase zu Bruch ging, versteht sich von selbst. „Was soll’s“, sagte ich zu Hanna, „man ist nur einmal Kind“. „Ja“, entgegnete sie, „nur manche bleiben das ihr ganzes Leben lang“.

Zurückhaltend war und bin ich indes bei den tierischen Freunden von damals, die nun wahrlich nicht zu unseren heutigen Wohngewohnheiten passen. Weder schafften wir uns einen Collie („Lassie“) noch eine Schimpansin („Judy“) an. Auch ein schielender Löwe („Clearence“) kam mir nicht ins Haus. Und eine Schildkröte, die jahrzehntelang nichts anderes macht, als emotionslos Salatblätter zu fressen, fand ich schon als Kind öde. Stattdessen einigten wir uns auf mongolische Wüstenrennmäuse, nachdem Hanna mich in ihrer unnachahmlich subtilen Art zugetextet hatte, wie wichtig Tiere für die kindliche Entwicklung seien. Fernsehvorbilder aus unserer Kindheit gab es für die kleinen Flitzer zwar nicht, dafür konnten sie aber leere Klopapierrollen in Windeseile verputzen. Kann ja auch nicht jeder. 

Auch nach dem Ableben und dem feierlichen Begräbnis der Rennmäuse auf der Wiese hinter unserem Haus muss ich jedoch weiterhin auf der Hut sein. Zwar hat Hanna schon früh eingesehen, dass sich innerhalb und außerhalb einer Mietwohnung kein Pony, das einst ihre Jugendbuch-Träume belebte, unterbringen lässt, aber sie schwärmt in jüngster Zeit allzu oft für Alpakas. Inzwischen schleppt sie nicht nur Gott und die Welt auf Alpaka-Wanderungen mit, sie mustert auch verdächtig häufig die Wiesen zwischen unseren Mietshäusern. In Gedanken liegt sie dann in der Hängematte, die wir unter der Linde aufgestellt haben, hält in der einen Hand einen kühlen Aperol-Spritz, während sie mit der anderen eines der Alpakas krault, die mehr oder minder intelligent, stets aber „so süß“ in der Gegend herumschauen. Man würde wirklich gerne wissen, was die lustig frisierten Tiere denken. Ob sie vielleicht Lust auf ein kleines Match mit Stoffbällen haben? Mal sehen.

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