Wissen Sie noch, was Langeweile ist?

von Michael Krennerich

Wissen Sie noch, was Langeweile ist? In meiner Kindheit gab es diese langen Regentage, an denen man nicht wusste, was man mit sich, seinen Freunden und der ganzen Welt anfangen sollte. Nichts passierte, was einen antrieb. Jeder Vorschlag von genervten Eltern eine Zumutung. Man schaute durch das Fenster den Regentropfen zu, wie sie Pfützen füllten, und hing seinen trüben Gedanken nach. Selbst wenn der Regen nachließ, fuhr man mit dem Fahrrad nur ziellos durch die Gegend und traf dabei allenfalls diejenigen, mit denen man nun wirklich nicht den Nachmittag verbringen wollte. Bestenfalls konnte man noch einen Schulfreund überreden, gemeinsam in die Eisdiele zu radeln. Immerhin: wenn man sich dort einen Eisbecher teilte, war es mit der Langeweile vorbei. Die Regel „Wer schneller isst, bekommt mehr ab“ beschleunigte die Zeit.

Als Erwachsener ist mir keine Weile mehr lang geworden. Ich weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht habe ich mich an mein ereignisloses Dasein gewöhnt und sitze dem Irrglauben auf, ein wirklich interessantes Leben zu führen. Vielleicht bin ich aber auch nur viel zu beschäftigt und habe schlicht zu wenig Zeit. Selbst wenn ich irgendwo lange warten muss, verspüre ich keine Langeweile, sondern nur Ungeduld. Das ist ein Unterschied. Der Gelangweilte weiß mit der vielen Zeit nichts anzufangen, der Ungeduldige wüsste es schon, kann es aber nicht, weil er, sagen wir mal, gerade drei Stunden außerplanmäßig auf dem Bahnsteig in Vilshofen ausharren muss. Just dies ist mir vor Kurzem passiert, als ich – wie einst Lukas und Jim Knopf mit ihrer Emma – auf großer Fahrt war.

Über Wien nach Bratislava sollte es gehen, dem Klima zuliebe mit der Bahn. In Niederbayern war dann aber erst einmal Schluss. Die Bahnstrecke nach Passau war komplett gesperrt, weil Gefahrengut ausgelaufen war. Nun gut, dass kann jedem mal passieren. Ich verschütte auch mal aus Schusseligkeit ein Glas Rotwein. Aber ich wisch es dann auch gleich wieder auf und sorge für Nachschub. Bei der Bahn gab es hingegen nur gratis Wasser und gute Wünsche des Zugbegleiters, als er mit dem ICE irgendwann zurück nach Nürnberg aufbrach. Allein gelassen auf dem Bahnsteig konnten wir Wartenden uns an der Kirche sattsehen, die über dem beschaulichen Örtchen thronte, oder auf dem Mobiltelefon daddeln. Ich selbst sann darüber nach, wie der Werbespruch „Deutschlands schnellster Klimaschützer“ gemeint war, der die Außenseite des mit hohem Tempo, aber ohne Passagiere bereits in der Ferne verschwundenen ICEs schmückte. Auf alle Fälle verspürte die zusammengewürfelte Schicksalsgemeinschaft keine Langeweile, sondern nur Ungeduld, die auf weitere Proben gestellt wurde.

Getrieben von der Sorge, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten zu müssen, machten sich die Ersten auf, um mit Bussen nach Passau zu fahren, die gerüchteweise vor dem Bahnhof abfahren sollten. Hier eine kleine Mathematik-Aufgabe am Rande: Wie viele ICE-Reisende passen in einen Bus? Eben. So richtig scheint man das nicht zu wissen, aber es sind auf alle Fälle zu wenig. Die Warteschlange war beachtlich. In Passau dann endlich angekommen, waren die Züge nach Wien heillos überfüllt. Reisende ohne Sitzplatz mussten diese umgehend verlassen und weiter auf dem Bahnsteig ausharren. Mir konnte das gleich sein. Ich war vorbereitet. Ganz Klimaschützer, hatte ich mich auf dem Sitz festgeklebt. Vorderhand ein wirklich guter move, im Nachhinein nicht ganz so gelungen. Bei der Ankunft in Wien ließ sich der Kleber aller verzweifelten Versuche zum Trotz nicht lösen. So befand ich mich nur wenig später wieder in demselben Zug auf der nunmehr freien Strecke zurück nach Nürnberg. Viele Stunden schaute ich den Regentropfen zu, wie sie der Fahrwind über die Fensterscheibe trieb und verspürte erstmals seit langer Zeit wieder Langeweile – zumindest bis ich am Nürnberger Bahnhof ohne Hose aus dem Zug und ins Taxi stieg.

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