Ein überraschender Anruf und eine Kuh

von Michael Krennerich

Der Anruf kam überraschend. Es war Freitag-Abend. Hanna und ich stritten uns gerade um den besten Sofaplatz, da wir Füße wie Seele baumeln lassen wollten. Hanna nahm den Anruf entgegen. Pauls Kunstlehrerin, Frau Kasapovic, war am Apparat und sie kam gleich zur Sache. Sie wolle wissen, ob es Pauls Eltern ebenso wie ihrem Sohn „scheißegal“ sei, dass er die Note 6 bekommt. „Neeiinn“, sagte Hanna und dehnte das Wort fragend. Das sei Pauls Eltern nicht egal. Um was es denn gehe. In gebrochenem Deutsch wetterte die Lehrerin nunmehr drauf los. Lange Rede, kurzer Sinn: Paul habe seine Kunstarbeit nicht abgegeben und habe es trotz mehrerer Aufforderungen auch nicht vor zu tun. Wenn die Arbeit am Montag nicht vorläge, gebe es notgedrungen eine „ungenügend“. „Wir kümmern uns darum“, versprach Hanna beschwichtigend und wünschte der aufgebrachten Lehrerin noch einen schönen Abend.

Nun hatte Hanna die Rechnung ohne den renitenten Künstler gemacht. Als Paul nach Hause kam und auf sein ausstehendes Kunstwerk angesprochen wurde, antwortete er für einen 15jährigen angemessen: „Die kann mich mal. Ich mach nichts“ – und ging sogleich seiner Wege. „Was musstet ihr denn überhaupt machen“, rief ihm Hanna noch hinterher, bevor er in seinem Zimmer verschwand. „Eine Kuh!“.

An die folgende Aktion, die Hanna unserem Paul später bei seiner Abiturfeier beichtete, wird meine Liebste nur ungern erinnert. Obwohl sie beileibe keine Helikopter-Mama war, die besorgt über ihrem herzallerliebsten Sohn kreiste, wurde sie zugleich aktiv und kreativ. Noch am selben Abend begann sie heimlich das Kunstwerk anzufertigen. Nicht wissend, was genau die Aufgabe war, malte sie mit viel Liebe fürs Detail und reichlich Wasserfarben eine riesige lila Milka-Kuh. Das Bild hochhaltend fragte sie mich zwei Stunden später: „Wie findest Du’s?“. „Eine lila Kuh“, stellte ich mit großen Sachverstand fest. Hanna lächelte zufrieden. Am Montag brachte sie das Werk gleich nach Unterrichtsbeginn in die Schule und gab es incognito im Lehrerzimmer ab, verbunden mit dem Hinweis, dass Paul das gute Stück zuhause vergessen habe.

Zwei Wochen später, ebenfalls an einem Freitag, kam das Ergebnis: eine mangelhafte, aber dennoch irgendwie ungenügende „5“. Paul teilte es uns kurz und knapp mit. Nur schwer konnte ich Hanna davon abhalten, in die Schule zu stürmen und die arme Frau Kasapovic ob ihres mangelnden Kunstverständnisses zur Rede zu stellen. „Wahre Künstler werden oft verkannt“, hätte ich sie trösten können. Aber ich sagte nur: „Das geschieht Dir recht“, worauf ich an diesem Abend immerhin das Sofa für mich alleine hatte.

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