von Michael Krennerich
Es ist wirklich erstaunlich. Es gibt Männer, die führen ein echtes Doppelleben. Mir wäre dies, ehrlich gesagt, zu stressig. Aber irgendwie ist es auch ein verlockender Gedanke, neben seinem langweiligen Leben noch ein weiteres, wirklich interessantes zu führen.
„Was meinst Du?“, frage ich Hanna, als wir gemeinsam am Frühstückstisch sitzen. „Mein Leben ist aufregend genug“, antwortet sie nach kurzem Nachdenken. „Außerdem reicht mir einer wie Du“. Ich nehme es als Lob, obwohl Hanna gelegentlich einen etwas abfälligen Ton anschlägt. „Woher weißt Du eigentlich, dass ich kein Doppelleben führe?“, frage ich sie. „Ich könnte ja ein Spion oder ein Auftragskiller sein, der morgens brav ins Büro geht und nach Dienstschluss irgendwelche Leute um die Ecke bringt“. Hanna schaut von Ihrer digitalen Zeitungslektüre auf. „Natürlich nur böse Menschen“, ergänze ich rasch. „Kurz und schmerzlos“. Mit leichtem Kopfschütteln wendet sich Hanna wieder dem Weltgeschehen zu. „Nein, Schatz, Du bist kein eiskalter Killer“. „Bist Du sicher?“, frage ich. „Ganz sicher“, antwortet sie.
Eigentlich sollte ich froh sein, dass meine Liebste mich nicht zu solchen Untaten für fähig hält. Aber da war er wieder – dieser Unterton. Könnte es sein, dass Hanna mich nicht für den coolen Typen hält, den ich meinem Verständnis nach verkörpere. Nur, weil ich beim Schwindeln einen roten Kopf bekomme und mich über meine Mitmenschen ständig aufrege? Sollte sie schon vergessen haben, dass ich bei „Kuhhandel“ mit undurchdringlicher Miene und psychologischem Gespür für die Gegner meist obsiege? Vielleicht sollte ich mein cooles Gangster-Image doch mit künstlicher Intelligenz und etwas Hip-Hop aufpolieren, geht es mir durch den Kopf.
Die Kulisse auf der Arbeit stimmt schon einmal. Um auf den Universitätsparkplatz zu gelangen, muss man nicht nur eine lebensgefährliche Schranke passieren, dort sieht es auch aus wie an einem Tatort. Überall rot-weiße Absperrbänder. Ich vermute, die Universität hat vor geraumer Zeit mehrere Kilometer davon günstig erstanden. Anders lässt sich deren Omnipräsenz nicht erklären. Die Bänder flattern allerorten an und in der Universität: an Türen, die nicht mehr passierbar und an Treppen, die nicht mehr begehbar sind; auf Parkplätzen, die Schlaglöcher aufweisen, und vor Fahrstühlen, die stillstehen. Gewiss liegen irgendwo auch jede Menge Karteileichen herum.
Im Büro angekommen, setze ich mich an den Schreibtisch, um Hausarbeiten zu korrigieren. Schweren Herzens nehme ich den unvermeidlichen Kampf gegen all jene Studierende auf, welche die deutsche Sprache übel zurichten. Im großen Stil eliminiere ich Kommata, die willkürlich gesetzt wurden, und köpfe Großbuchstaben, wo sie wirklich nicht hingehören. Und dass der Dativ dem Genetiv sein Tod ist, wissen wir schon lange. Der indirekten Rede kann ich leider ebenfalls nicht mehr helfen; sie scheint für immer verloren. Doch Studierende deswegen über die Klinge springen lassen, bringe ich nicht übers Herz.
Auch auf dem Rückweg will sich, ungeachtet der coolen Sonnenbrille, kein Killer-Image einstellen. Zu rücksichtsvoll ist mein Fahrstil und zu praktisch ist unser Auto. Meine Chance ergibt sich erst zuhause. „Gut, dass Du kommst“, ruft mir Hanna in heller Aufregung schon auf der Treppe entgegen und drängt mich mit eifrigem Winken zur Eile. „Im Bad ist eine riesige, eklige Spinne“. „Keep cool, baby“, reagiere ich gelassen, „you hired a contract killer“. „Bleib‘ aber besser draußen“, rate ich ihr noch, „es wird nicht schön.“ Dann schließe ich die Badtür hinter mir und mache mich auf die Suche. Nach wenigen Minuten ist der Achtbeiner, dessen Größe und Umfang nicht annähernd Hannas Beschreibung entsprechen, gefunden und gefangen. Ein nettes Kerlchen, das allenfalls einer Fliege etwas zuleide tut. So ein Geschöpf kann ich beim besten Willen nicht im Klo entsorgen. Stattdessen öffne ich das Fenster und helfe ihm beim Umzug ins Freie. Frische Luft hat noch keinem geschadet. Dann betätige ich die Toilettenspülung, damit mein Image nicht noch weiter Schaden nimmt.
„Erledigt!“, melde ich Hanna Vollzug. „Ich bin stolz auf Dich. Du bist mein Held“, lobt mich diese und nimmt mich in den Arm. „Ehrensache“, entgegne ich. Doch ein wenig graut es mir schon vor dem anstehenden Osterwochenende. Da muss ich wieder Osterlämmer aus lockerem Rührteig schlachten.
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